Rede zum Abitur 2025

Sind Lehrerinnen/Lehrer für Latein hier?

Ich hoffe, Sie nehmen mir das Folgende nicht allzu sehr übel.


Ich hatte einen Lateinlehrer, der hieß Herr Schrag. Herr Schrag war, man kann es nicht anders sagen, ein wenig, nun ja, schräg.

Sein Äußeres war ihm offensichtlich völlig egal, er entsprach ganz dem Klischee des gelehrten, ein wenig abgehobenen Sonderlings. Im Unterricht pflegte er abzuschweifen. Statt uns die Regeln der lateinischen Grammatik beizubringen, erzählte er eine Schulstunde lang über das, was ihm gerade einfiel. Liebenswert, aber völlig weltfremd, so schien es uns.

Wir machten Witze über ihn. Wir nannten ihn Schrat.

Gibt es das noch, Witze über Lehrerinnen machen?

Aber wer hielt vor jetzt genau 40 Jahren die Rede für die Lehrkräfte bei meiner Abiturverleihung? Herr Schrag. Alle dachten, das wird nichts. Aber er hat uns überrascht.

Denn der hochgelehrte, sonderliche Herr Schrag sprach – über das Glück. Es war natürlich eine Philosophiestunde, eine Abhandlung über das Konzept und den Begriff des Glücks. Was es bedeutet, glücklich zu sein. Wie das Glück gelingt, oder auch nicht. Die klassische Philosophie hat viel über den Begriff des Glückes zu sagen. Philosophie ist ja die Lehre vom richtigen, vom geglückten Leben. Die anwesenden Lehrkräfte für Latein oder Philosophie werden mir zustimmen. Oder?

Und dann wünschte er uns Glück. Glück im Leben, Glück mit unseren Plänen – mit dem Wissen, dass es nicht garantiert ist, mit dem Wissen, dass es schiefgehen kann, dass wir es nicht komplett in der Hand haben, ob uns das Leben gelingt. Aber er wünschte uns, dass es uns glückt.


Ihr wart jetzt acht Jahre an diesem Gymnasium, einige vielleicht etwas länger. Was haben euch diese Jahre gebracht? Die eine oder der andere hat sich Frage vielleicht schon mal gestellt. So, oder etwas anders formuliert.

Wie also hat euch die Schulzeit geholfen, dass euch das Leben besser glückt? Die Mathematik, überhaupt die Naturwissenschaften? Deutsch, Geografie, Philosophie? Latein?

Sport?

Ihr habt Fakten gelernt. Einige Fakten sind ja interessant. Zum Beispiel für Deutsch: »Eigentum verpflichtet« ist ein vollständiger Satz. Er steht so im Grundgesetz.

Oder Mathematik: Was ist der Unterschied zwischen einer Million und einer Milliarde?
Eine Million Sekunden sind etwa 11 Tage. Eine Milliarde Sekunden sind 31 Jahre, 259 Tage, 1 Stunde, 46 Minuten und 40 Sekunden. Eine Million – eine Milliarde.

Oder Biologie: Empathie hat sich evolutionar entwickelt und ist ein Überlebensvorteil. Manche behaupten ja heute das Gegenteil.

Einfache Fakten.

So interessant diese Fakten sind: Im besten Fall habt ihr nicht nur sie gelernt. Sondern: Was Wissen eigentlich ist. Was verlässliches Wissen ist, und wie ihr unterscheidet zwischen Behauptungen, Verfälschtem und tatsächlichen Fakten. Das ist schwer genug und ich kann euch versprechen, es wird nicht einfacher. Aber das Werkzeug dafür habt ihr hier erhalten.


Eine Menge Menschen an dieser Schule und rund um eure Schullaufbahn haben dafür ihr Bestes gegeben, davon bin ich überzeugt. Dafür möchte ich hier allen danken. Den Lehrerinnen und Lehrern, Pädagoginnen und Pädagogen. Der Schulleitung. Dem Verwaltungspersonal, Sekretärinnen, und dem Hausmeister. Und Danke an alle Eltern, die jetzt wahrscheinlich stolz wie Bolle sind. Ich bin stolz wie Bolle.

Besonders danke ich allen, die sich im Elternbeirat für euch engagiert haben.

Auch der Schulbehörde müsste mein Dank gelten. Denn sicher gibt es dort Menschen, die mit Herzblut dabei sind und ihr Bestes tun – im täglichen Spagat zwischen Anspruch und Realität.
In der Realität herrscht Mangel. An Ausstattung, an Raum, an Personal. Die Bedingungen in Bremen sind nicht die besten für eine gute Schulbildung.
Ihr habt das gemerkt – an den Fehlstunden, an der Raumsituation, manchmal vielleicht schon, wenn ihr einfach nur auf die Toilette wolltet.

Und doch: Alle, die heute hier sind, haben das Beste daraus gemacht. Oft sogar heroisch. Und das werden sie auch weiterhin tun.


Allerdings: Bei dem, wie Bildung jetzt funktioniert, finde ich zwei Dinge besonders schlecht auszuhalten:

Zum einen: Wie sehr der Schulerfolg davon abhängt, wieviel Geld und Bildung die Eltern haben. In Bremen besuchen nur etwa 21 % der Kinder aus benachteiligten Verhältnissen ein Gymnasium – in Berlin sind es fast doppelt so viele. Der eine Baustein für ein geglücktes Leben, Bildungserfolg, hängt noch immer viel zu stark von Herkunft und Umfeld ab.
Ihr habt – im Durchschnitt – einen Startvorteil mit auf den Weg bekommen, und ich hoffe, ihr nutzt ihn zum Besten.

Und zweitens: Was Schule auch leider oft nicht gut kann – und das ist kein Vorwurf an einzelne Lehrkräfte, sondern ans System – ist: den Mut zum Fehler machen fördern.

Wie habt ihr gelernt? Für Klausuren. Für Noten. Für „richtig“ oder „falsch“. Und wehe, es ist zu viel falsch – dann gibt’s selten eine zweite Chance, sondern Punktabzug.

Aber echtes Lernen funktioniert anders. Lernen ist ein Prozess. Und Fehler sind keine Beweise für Unfähigkeit, sondern Bausteine auf dem Weg zum Können. Wie bei Edison, der mit der Glühbirne, der sagte: „Ich habe 10.000 Wege gefunden, wie es nicht funktioniert.“

Wer ständig für Bewertungen lernt, lernt oft nicht neugierig, sondern vorsichtig. Nicht fragend, sondern absichernd. Nicht entdeckend, sondern einstudierend. Beauftragt ChatGPT, im schlimmsten Fall ohne kritischen Blick. Und dabei geht verloren, was Schule eigentlich auch sein sollte: ein Ort zum Ausprobieren, zum Herumtüfteln, zum Scheitern und Besserwerden.

Ich hoffe, ihr habt gelernt, dass Fehler zum Leben dazugehören. Ich hoffe, ihr habt gelernt, dass es nicht das wichtigste ist, Fehler zu vermeiden, sondern sie machen zu dürfen und daraus zu lernen. Und nicht zuerst zu fragen, wer Schuld hat, sondern warum etwas schief lief – und wie es besser gemacht werden kann.

So kam Edison zur Glühbirne.


In der Welt, in die euch die Schule jetzt entlässt, muss ja vieles besser gemacht werden. Einiges ist aus den Fugen geraten.

So viele Bilder kommen einem da in den Kopf.

Die 18-Jährige, die bei mir am Küchentisch sitzt und von der Zeit »vor dem Krieg« in ihrem Heimatland spricht.

Die Pressesprecherin des Weißen Hauses, die klingt, als wäre sie ein Direktimport aus Nordkorea in ihrem albernen Personenkult.

Oder dass in einem Zeitraum von 19 Monaten in 18 Monaten die weltweite Duchschnittstemperatur schon über 1,5 Grad über dem vorindustriellen Durchschnitt lag.


Auch wenn davon vieles beängstigend ist: Ich will euch keine Angst machen, sondern Mut: Die Welt bleibt voller Möglichkeiten für das Gute und Richtige, und für das Glück. Auch das habt ihr hoffentlich in großem Maß in euren acht Jahren am dieser Schule erfahren. Ihr seid – alle von euch – in dieser Welt richtig und nötig. Mit eurem Wissen, mit eurem Denken, mit eurem Herzen.

Ihr habt abseits von Fakten einiges gelernt: Euch zu behaupten, euch nicht entmutigen zu lassen. Ihr habt gelernt, kluge Fragen zu stellen, Verantwortung zu übernehmen, und nicht alles hinzunehmen, was man euch vorsetzt.

Ihr habt gelernt, manchmal genau soviel zu tun, wie nötig ist, und nicht mehr – und seien wir ehrlich: das muss man auch können.

Ihr habt eine starke Grundlage. Und sie reicht aus, um weiterzulernen, und euren Weg zu gehen. Manche haben ja schon feste Pläne, andere wissen es noch nicht so genau. Aber ihr seid gut ausgerüstet.

Vor 40 Jahren wünschte Herr Schrag mir und meinen Mitschülerinnen und Mitschülern Glück.
Heute wünsche ich euch: Ein geglücktes Leben. Und Herr Schrag würde wohl zustimmen.

Vielen Dank.


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter:

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.